Zum Inhalt springen →

Steelenfeld

Vorschriften

„Ich glaube, so muss das auch damals gewesen sein, dass alles so groß und mächtig war, dass man gar nicht mehr darüber nachgedacht hat, was man sagt.“

Das sagte ein Mädchen von vielleicht siebzehn Jahren zu ihrer Freundin, nachdem sie von einem älteren Herren beschimpft wurden, weil sie über und nicht zwischen den Stelen entlanggingen.
Diesen Satz habe ich später (nicht mehr ganz wörtlich aber doch sinngemäß) aufgeschrieben, weil er in mir viel bewegt hat. Meine Sicht des Stelenfeldes hat sich auch durch diesen Satz verändert.

Die Stelen sind so überwältigend, dass man schnell den Überblick, das Große, Ganze aus den Augen verliert.
Die Stehlen zwischen denen man hindurchgeht, verdecken wie Scheuklappen den Blick auf alles was sich neben einem befindet – dazwischen der wie endlos wirkende Gang, welcher aus dem Feld hinausführt.
Der Besucher verliert mit dem Überblick auch einen Teil seiner Macht über seine Entscheidungen. Er muss sich der Masse von Stelen unterordnen und ihrer Ordnung folgen.
Ist das nicht das Prinzip, dass die großen Verbrechen an den Juden erst ermöglicht hat?

Vorschriften

Wenn das System wichtiger wird als das Element, das Individuum, der einzelne Mensch, dann verliert die Entscheidung des Verstandes an Gewicht gegenüber dem System und seiner Ordnung. Die Aufrechterhaltung der Ordnung wird zum wichtigsten Ziel, die Einhaltung der Regeln zum obersten Gebot.
Somit kommt es, dass auf die Einhaltung von Regeln mehr Wert gelegt wird, als auf das Verstehen von Problemen – der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.
Das Begreifen, das Verstehen, das Herangehen an eine Sache mit anderen, ungewöhnlichen Mitteln, mit Mitteln die bestehenden Regeln widersprechen wird automatisch zur Unverfrohrenheit.

Das Stelenfeld verstehe ich somit in erster Linie nicht allein als Mahnmal für die ermordeten Juden europas sondern auch als Bild für den menschenmöglichen Größenwahn – der ein solches Verbrechen ermöglichte.

Stelenhüpfen

Vorschriften Es ist verboten von Stele zu Stele zu springen. Das Betreten und das Gehen über die Stehlen ist auch bei genauer Einhaltung der Vorschriften aber ebenso wie das Sitzen auf den Stelen nicht verboten.
Sich über die Stelen und die Köpfe der anderen Besucher zu erheben ist dennoch in mehrfacher Hinsicht eine Überwindung.

Zum Einen reagieren „die Erwachsenen“ häufig erbost – etwa

„Das ist ja geradezu unglaublich, was Sie da machen! Sie hüpfen wohl auch auf Grabmälern so rum!“
Auch ein freundlicher Hinweis darauf, dass ein Denkmal doch etwas anderes als ein Grab sei, führt häufig nur zu weiteren Vorwürfen wie „Hier ist das Betreten ja sogar noch viel schlimmer.“

Vorschriften

Zum Anderen Kostet der „Sprung“ oder Schritt über einen Gang immer auch Überwindung. Mitunter traut sich der Stelenhüpfer auch nicht so recht. Gerade von einer höheren auf eine niedrigere Stele zu gelangen kostet viel Überwindung.

Natürlich kann ich verstehen, dass es Menschen gibt, die es als Schändung ansehen, sich auf die Stelen zu begeben, sie mit Füßen zu betreten und von Stele zu Stele zu springen oder zu gehen.
Vielleicht denken Sie „Mensch – wie können die nur das Denkmal als Spielplatz missbrauchen! Für die ist das wohl nur ein großer Spaß! Warscheinlich wissen die gar nicht, warum das Stelenfeld überhaupt ist.“

Vorschriften

Mir ist aber kein Stelenhüpfer begegnet, der aus Respektlosigkeit oder gar Missachtung der ermordeten Juden über das Stelenfeld „gehüpft“ wäre.
Im Gegenteil, alle die mir begegneten, haben sich offenbar sehr wohl mit dem Warum des Stelenfeldes beschäftigt. Häufig hatte ich das Gefühl, dass sie das Denkmal aus ihrem „verbotenen“ Blickwinkel sogar besser verstanden hätten.

Vorschriften

Diese andere, verbotene Perspektive eröffnet eben einen ganz anderen Blick auf das Feld, es wirkt auf eine andere Art überwältigend.
Auf einer Stele mitten im Feld zu stehen wirkt beängstigend, da man auch hier ganz alleine ist. Dazu kommt, dass man über so viele Abgründe gelangen muß, um das Feld wieder zu verlassen. Der direkte Weg nach unten wirkt zu weit, ist es häufig auch, ein Herunterspringen ist nicht möglich.
Dazu ist es schwer die Höhe der „eigenen“ Stele richtig abzuschätzen, man muß bis weit an den Rand des Feldes zurück um herunter zu kommen.

Das Verbot des Stelenhüpfens ist aber dennoch gut, wichtig und richtig. Es schützt das Stelenfeld mehr oder weniger gut vor Missbrauch durch Menschen, die „nur so zum Spaß“ über das Stelenfeld Hüpfen (soweit es diese überhaupt gibt). Wer aber das Stelenfeld aus einer anderen Perspektive, also von oben sehen möchte, der muss das Verbot übergehen oder durch Verzicht auf das Springen das Verbot umgehen. Das wissentliche Hinwegsetzen über ein Verbot setzt ja eine bewusste Entscheidung voraus, kann Folge von oder Anlass für ein Nachdenken über den Sinn des Verbotes und in diesem konkreten Fall eben über das Warum des Stelenfeldes sein.

Veröffentlicht in Ansichtssache Foto Geschichte

Kommentaren

Kommentar verfassen